Von Tag zu Tag
Wie die meisten Kinder habe auch ich in jungen Jahren alles gelesen, was mir in die Quere kam. Brigitte, Romantik-Thriller von Victoria Holt, VDI-Nachrichten, Kochbücher, Handarbeitsbücher, Kunstbücher, Hanni und Nanni sowieso, ferner mehrmals alles aus der örtlichen evangelischen Gemeindebibliothek, Geschichten aus der Bibel, Märchen, das Gemeindeblatt ebenso wie „Das Haus“ und die Flohkiste – mithin alles, was gerade so da war. Besonders gern mochte ich „Von Tag zu Tag. Das große Mädchenbuch“ von Rosemarie Schittenhelm, ein Benimmbuch für Mädchen aus dem Jahre 1957, das mir, so meine ich, von einer Tante vererbt wurde.
Ein Benimmbuch für Mädchen von 1957 kommt – das kann man
sich leicht vorstellen – recht normativ daher und enthält logischerweise, da es
sich um ein Buch aus den Fünfzigern handelt, jede Menge 50er-Jahre-Dinge wie
beispielsweise eine krasse Kondensmilchverherrlichung. Dennoch: „Von Tag zu
Tag“ war mein go-to-Buch. Immer, wenn ich nicht wusste, was ich lesen sollte,
habe ich danach gegriffen. Hat mich, den Teenager in den postmodernen
80er-Jahren, vielleicht gerade der rigide Ton angesprochen? Möglich wär‘s.
Das Buch teilt sich in vier große Kapitel: Der Kern – Die
Schale – Daheim – Die Welt. „Der Kern“ behandelt Körperpflege und Kosmetik, im
Kapitel „Die Schale“ geht es um Kleidung, wer kann was tragen, zu welchem
Anlass zieht man sich wie an, wie stellt man eine Garderobe zusammen und wie
muss sie gepflegt werden – Fragen, die in „Von Tag zu Tag“ nicht etwa verhandelt,
sondern direkt und eindeutig beantwortet werden.
In Kapitel drei, „Daheim“, dreht
sich alles um das richtige Führen eines Haushalts. Neben einer kurzen
Lebensmittelkunde und den Canasta-Regeln finden sich in diesem Kapitel zeitlos-informative
Artikel wie „Das bittere Ende: Geschirrabwaschen“, „Die Mannigfaltigkeit eines
modernen Besteckes“, „Es schmeckt besser am hübsch gedeckten Tisch“, „Man wirkt
besser mit guten Tischmanieren“, „Es plaudert sich besser am reizenden Kaffee-
und Teetisch“, „Budenzauber zur Faschingszeit“, um nur ein paar zu nennen.
Das vierte Kapitel schließlich, „Die Welt“, bietet einen
Schnellkurs Kunst- und Literaturgeschichte sowie das wichtigste zum Thema
Architektur, Film und Musik, ferner eine Einführung in die Kunst des
Briefeschreibens sowie eine Anleitung, wie man sich auf Reisen verhält.
Mein Lieblingskapitel war und ist „Die Schale“ und darin
besonders der Abschnitt, in dem es darum geht, wie man sich geschickt eine
schöne Garderobe zusammenstellt, sowie das Kapitel „Die Pflege der Kleidung“:
Am besten gefällt mir die Anweisung unter Punkt sechs, man
solle sich am Wochenende einen Outfitplan für die kommende Woche
zusammenstellen. Das wollte ich immer schon machen! Habe mir nun eine App
heruntergeladen, mit der man mit den eigenen Klamotten Outfits zusammenstellen
kann – einen sogenannten wardrobe manager bzw. fashion assistant. Muss nur noch alle meine
Kleidungsstücke fotografieren. Bis dahin!
P.S.: Einmal hat mich „Von Tag zu Tag“ sogar zu zwei äußerst
seltsamen Gedichten inspiriert – schaut mal hier!
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4 Kommentare:
Ich stand auch sehr auf die Bekleidungsregeln der 50er als ich Teenager war. Mein Referenzwerk war "Wir schneidern und nähen" von Emmi Zimmermann von 1961 aus dem Bertelsmann Lesering, ein Buch, in dem es nur sehr am Rande um das Schneidern und Nähen ging, sondern in dem verhandelt wurde, unter welchen Umständen eine Frau ohne Hut und Handschuhe auf die Straße gehen durfte, wie man Zubehör geschmackvoll und farblich abgestimmt kombiniert und was Hella, Stenotypistin und Nichte der Autorin, am besten zur Arbeit oder zum Ausgehen mit einem Herren zur "blauen Stunde" anzieht. Faszinierend! Die Bekleidungssitten eines Naturvolks auf Paupa-Neuguinea hätten nicht exotischer sein können.
Komisch, bei uns gab es auch die VDI-Nachrichten.
Schon wieder ich. Wusstest du, dass du in dem Buch "craftista-handarbeit als aktivismus" mit Fußnote und allem zitiert wirst? Falls nicht: Es war dein schöner Satz: "Öffentliches Stricken wird bei uns übrigens nie in werden. Schuld daran sind die Grünen, die in den 80er Jahren im Bundestag gestrickt haben. Aber nichtsdestotrotz ist Stricken natürlich nachwievor eine schöne, eine weiche Form der Konsumkritik.. " Du sollst damit den Topos der Kulturkritik freudig aufgenommen haben. (S. 47 in einem ansonsten eher ärgerlichen Buch)
Ich bin sehr stolz auf dich!
Suschna - wirklich? Das wusste ich nicht! Aber ich wusste ja auch nicht, dass ich mal so einen Satz geschrieben habe ...
Lucy in the Sky: Die blaue Stunde kommt natürlich in "Von Tag zu Tag" auch zur Sprache; aber auch der blaue Dunst, vor dem zumindest die jungen Mädchen eindringlich gewarnt werden.
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