Der Balmain-Blazer
Einer meiner Deutschlehrer behauptete einmal, man könne die
Epochen der Literatur als Reifungsprozess verstehen, der auch an der
individuellen Entwicklung des Menschen nachvollziehbar sei: Sturm und Drang =
Jugend, Weimarer Klassik = Erwachsenenalter, so in etwa. Nicht nur bin ich sehr
dankbar, dass man mich in der Schule mit derartigen Smalltalk-Themen
ausgestattet hat (es ist wirklich ein hervorragender Icebreaker, sich auf einer
Party darüber zu unterhalten, ob man sich in Sachen innere Entwicklung derzeit in der Romantik oder im Biedermeier befindet oder ob man womöglich schon
vormärzliche Tendenzen in sich spürt), nein, ich hoffe auch schwer, meinen
Deutschlehrer nicht missverstanden zu haben, denn die Vorstellung, im
Alter dann postmodern zu sein, ist enorm bestechend!
Möglicherweise bin ich sogar
schon in die Phase meiner persönlichen Postmoderne eingetreten, denn anders
kann ich es mir nicht erklären, warum ich auf einmal über die Anschaffung eines marineblauen Pierre-Balmain-Blazers mit dicken Goldknöpfen nachdenke – ein
Kleidungsstück, das mein Sturm-und-Drang-Ich als konservativ, mein Biedermeier-Ich
als laut und prollig und mein Expressionismus-Ich als angepasst bezeichnet
hätte. Mein postmodernes Ich hingegen hat sich längst vom Prinzipiellen
verabschiedet, alles ist erlaubt, auch ein Balmain-Blazer mit dicken Goldknöpfen.
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